Zwei kleine Wörter haben Schottland gespalten. Das Referendum über die Unabhängigkeit ist seit zwei Jahren Thema zahlreicher hitziger Debatten in Pubs und Wohnungen. Umfragen zeigen Befürworter und Gegner fast Kopf-an-Kopf, 97 Prozent der Stimmberechtigten haben sich in die Wahllisten eingeschrieben.
Philip Bartholomew führt ein Café in Edinburgh. Er ist seit den 80er-Jahren der Meiniung, Schottland sollte seinen eigenen Weg gehen und wird mit “Ja” stimmen. “Der Zeitpunkt war nie so gut”, sagt er, “Schottland wartet seit Jahrzehnten, es ist die beste Gelegenheit. Wir können es schaffen, und wir sollten es jetzt tun.”
Seine Nichte, die Studentin Sarah, stellt sich die Zukunft ihres Landes anders vor: “Ich sage nicht, dass wir nicht unabhängig sein können. Es ist lediglich der falsche Zeitpunkt – vielleicht in zehn oder 20 Jahren”, meint Sarah. Umfragen zeigen, dass die Wirtschaft bei der Meinungsbildung über die Unabhängigkeit den Ausschlag gibt. Am wichtigsten dabei ist das Erdöl in der Nordsee.
Philip: “Schottland hat viele Rohstoffe, Erdöl ist nur einer davon.” “Es ist aber unser wichtigster”, wendet Sarah ein. Philip: “Es ist nicht unser Wichtigster. Unsere Hauptrohstoffe sind die anderen: Wasser, Gezeiten- und Windenergie, Fisch, Landwirtschaft, Whisky. All diese Dinge sind wichtiger als Öl.”
Sowohl in der Öffentlichkeit als auch im privaten Raum gibt es hitzige Debatten über das Thema Unabhängigkeit. Sie sind aber weitgehend zivilisiert geblieben, besonders in den Familien und unter Freunden. “Es ist eine Frage von ‘Ja’ oder ‘Nein’ – da gibt es immer eine starke Spaltung. Ich denke, zwischen Freunden gibt es keinen großen Streit. Aber ich kenne auch Freunde, die sich darüber zerstritten haben. Hoffentlich kommen sie wieder zusammen”, so Philip Bartholomews Überzeugung. “Ja, denn ‘Zusammen ist es besser’”, spielt Sarah auf die Bewegung der Gegner an. Philp: “Die Leute sind besser zusammen, aber nicht auf eine bödsinnige, politische und mit Slogans versehene Art. Das ist Blödsinn. Es ist nicht, als würde man ‘Willst Du eine Tasse Tee’ – ‘Nein Danke’ sagen. Wir reden hier über unser Land. Das ist keine Tasse Tee.”
Einer Umfrage zufolge sind 42 Prozent der Familien unter sich unterschiedlicher Meinung über die Unabhängigkeit. Es sieht aus, als habe man aber kein Problem mit dieser Meinungsdifferenz. Ian Shepherd ist in Schottland geboren. Wendy kommt aus Australien, lebt aber seit ihrem 25. Lebensjahr in Großbritannien. Sie verbringen ihr Rentenalter in Ians Geburtsort Montrose. Hier ist man traditionell für die schottische Unabhängigkeiot.
“Politik hat dieses Haus noch nie entzweit. Bislang waren wir in politischen Dingen immer einer Ansicht. Es ist nur die Unabhängigkeit, über die wir unterschiedlicher Auffassung sind”, meint Ian. Seine Frau Wendy meint: “Wir stimmen in vielen Dingen überein, ich bin sehr besorgt, dass man die EU verlassen müsste. Und über Nigel Farage und solche Leute.”
Ian ergänzt: “Wir sind der gleichen Auffassung darüber, wie eine Gesellschaft funktionieren sollte. Es geht nur darum, mit welchen Mitteln eine Veränderung herbeigeführt werden soll. Ich sage nicht, dass Schottland ein Utopia sein wird. Aber ich denke, es ist ein Schritt hin zu einer Verbesserung, von der die nächste Generation profitieren könnte.”
Wendy und Ian wollen beide eine gerechtere Verteilung des Wohlstands. Aber über die Abstimmung am 18. sind sie uneins: “Ich werde am 18. September mit ‘Nein’ stimmen. Ich denke nicht, dass dieser große Wechsel hin zur vollen Unabhängigkeit nötig ist. Ich wäre mit einer größtmöglichen Dezentralisierung zufrieden.”
Wie immer das Referendum auch ausgehen wird, die Meinungsunterschiede werden bestehen bleiben. Aber vielleicht wird die Tatsache, dass das Referendum dann vorüber ist, die Gemüter wieder beruhigen.
euronews-Reporterin Joanna Gill meint: “‘Ja’ oder ‘Nein’? In Schottland ist das die erste Frage, die man im Pub, bei der Arbeit oder bei einer Hochzeit gestellt bekommt. Wie die Wirtschaft hat sie die Gesellschaft in der Mitte geteilt. Nach einer zweijährigen Kampagne dürften Familien, Freunde und Kollegen nun froh sein, dass es bald eine Pause bei den Diskussionen um Politik geben wird.”